Immer mehr wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen den hohen Gesundheitswert eines gezielten Kraft- und Ausdauertrainings. Wie wir inzwischen wissen, ist ein gestählter Körper besser gegen Diabetes, Bluthochdruck, Krebs, Osteoporose und auch gegen andere Erkrankungen gewappnet. Die meisten Menschen verbinden dennoch Muskeln nur mit Bewegung, gutem Aussehen, Fettverbrennung und vielleicht noch der Produktion von Wärme (Schwitzen).
…Das kann doch nicht alles gewesen sein?…
In diesem Artikel möchte ich euch einen kurzen Überblick über den Hintergrund und die „aktuell“ gewonnen Erkenntnisse dieses Wunderwerkes der Evolution geben. Zudem erlebe ich leider fast täglich, dass wir in unserer Gesellschaft eine komplett andere Vorstellung haben, was artgerechte Bewegung ist. Artgerecht bedeutet in diesem Zusammenhang die wirkliche Funktion einzelner Organ- und Zellsysteme auf Grundlage genetischer Programmierung durch die Evolution (Entwicklungsgeschichte und notwendige Anpassung an die Umwelt) des Menschen. Dafür gehe ich auf folgende Fragen ein:
- Welche allgemeine Bedeutung hat die Muskulatur für uns und warum ist der aktuelle Lifestyle ein Problem für unsere Gesundheit?
- Wie und für welche Aufgaben hat sich die Muskulatur im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt?
- Was ist nun die optimale oder artgerechte Bewegung und vor allem wie lässt sich diese in den modernen Alltag integrieren?
Welche allgemeine Bedeutung hat die Muskulatur für uns und warum ist der aktuelle Lifestyle ein Problem für unsere Gesundheit?
Immerhin ist unsere Muskulatur das größte Stoffwechselorgan des Menschen und macht im Schnitt 40 Prozent bei Männern und etwa 30 Prozent bei den Frauen der gesamten Körpermaße aus. Die über 600 kleinen zwischen Kopf und Zehen verteilten „Kraftwerke“ kontrollieren nicht nur jede kleinste Bewegung, sie tragen ebenso zur Verdauung und zum Hormonstoffwechsel bei. Nebenbei sind sie auch für den Temperaturhaushalt unseres Körpers hauptverantwortlich und haben beeindruckende Heilkräfte.
Leider spielt das Benutzen der Muskeln, durch den immer weniger aktiven Alltag, eine meist untergeordnete Rolle. Der durchschnittliche Büroarbeiter bringt es gerade mal auf 1.500Schritte/Tag. Die Mindestanforderung für eine normale Stoffwechselaktivität, liegt bei 10.000 Schritten/Tag. Somit entsteht täglich, bei den meisten Menschen in der westlichen Zivilisation, ein sogenanntes „Mismatch“. Dies bedeutet, dass der Körper keine Möglichkeit bekommt, seine normalen Stoffwechselvorgänge innerhalb und zwischen den Körperzellen zu regulieren. Langfristig bedeutet dies „Gefahr“ und ruft dadurch die Aktivierung unseres Immunsystems auf den Plan. Da das Immunsystem die Aufgabe hat, uns vor Krankheit bzw. Tod zu schützen, muss eine Entzündung über sogenannte Zytokine hervorgerufen werden. Diese sogenannten regulatorischen Eiweiße kann man mit der „Sprache des Immunsystems“ vergleichen. Dies ist eine Ursache für die heute vermehrt auftretende „Stille Entzündung“ (engl. low-grade-inflammation). Natürlich ist dieser Schutzmechanismus für das Überleben wichtig und auch kurzfristig als positiv zu sehen. Leider kann diese unterschwellige Entzündung häufig nicht selber wieder vom Körper aufgelöst werden und führt dadurch langfristig zu chronischen Erkrankungen (Bsp.: HKL-Erkrankungen, Adipositas, Diabetes, Demenz, Alzheimer, Depression, Psoriasis usw.), eingeschränkter Leistungsfähigkeit und vor allem einer geringeren Lebensqualität. Zur Auflösung dieses Konflikts, ist die regelmäßige Aktivierung der Muskulatur ein erster wichtiger Schritt. Deshalb sollten wir uns der nächsten Frage stellen:
Wie und für welche Aufgaben hat sich die Muskulatur im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt?
Die Antwort ist ganz einfach. Wir mussten uns in 99.9999% der Menschheitsgeschichte bewegen um zu überleben. Das bedeutet, Bewegung war neben dem Schlafen, Essen und Reproduktionsprozess die am meistengenutzte Fähigkeit des Menschen. Im Durchschnitt schafften wir es auf 10-80km/Tag um entweder Nahrung zu finden oder neue Orte zum Leben aufzusuchen. Die Neugierde und Motivation über den Neurotransmitter Dopamin spielen hierbei eine ganz große Rolle. Zudem war Hunger neben Infektionskrankheiten die zweithäufigste Todesursache in der Menschheitsgeschichte. Durch diese evolutionären Herausforderungen hat sich eine vielfältige Funktionsweise der Muskulatur entwickelt. Somit lässt sich erklären, warum auch die Muskulatur gerade heutzutage eine wichtige immunologische Rolle spielt. Zudem ist sie der Hauptaktivator von Stoffwechselprozessen im Bindegewebe und dem Rest des Körpers.
Vor allem die Immunreaktion kann durch Muskelaktivität beeinflusst werden. Zum einen hat die richtige Bewegung antientzündliche bzw. entzündungsregulierende Effekte, die im Kontext vieler Erkrankungen gezeigt wurden. So reduziert regelmäßige körperliche Bewegung die systemische Konzentration von IL-6, TNF-α und zahlreichen anderen Zytokinen (Botenstoffe zur Kommunikation des Immunsystems) und Chemokinen (Signalproteine).
Dabei ist vor allem die erhöhte Ausscheidung verschiedener Myokine beim aktiven Muskel von Bedeutung. Zum Verständnis, Myokine sind regulatorische Eiweiße bzw. hormonähnliche Substanzen, welche den Stoffwechsel, das Immunsystem, das Nervensystem und alle weiteren Organsysteme positiv beeinflussen! Sozusagen kommuniziert der Muskel damit mit allen anderen Organsystemen und versucht in Rücksprache mit Gehirn eine Balance im Körper zu erzeugen.
Aktuell geht die Wissenschaft von ca. 600 verschiedenen Myokinen aus. Jedes davon hat wichtige Aufgaben für unsere Gesundheit und ist unerlässlich für einen optimal funktionieren Organismus. Somit ist der Einfluss von Bewegung extrem effektiv um gesund zu bleiben, gesund zu werden oder sich einfach nur besser zu fühlen. Vor allem die Muskel produzierten Myokine IL-6 , IL-8 und IL-15 (Energieverteilung, antiinflammatorisch) scheinen bedeutsam zu sein, da sie die TNF-α-Produktion (Entzündung) hemmen, die Freisetzung anti-entzündlicher Zytokine wie IL-1ra und IL-10 fördern und gleichzeitig die Lipolyse (Fettverbrennung) stimulieren. Zum anderen hat regelmäßige körperliche Aktivität speziell in Bezug auf T-Zellen einen vielfältigen Einfluss. Regelmäßiges Ausdauertraining erhöht den relativen Anteil regulatorischer T-Zellen (zur Prävention und Behandlung von Autoimmunerkrankungen) und die Aktivität der Krebsabtötenden Killerzellen.
Was ist nun die optimale oder artgerechte Bewegung und vor allem wie lässt sich diese in den modernen Alltag integrieren?
Unter optimaler Bewegung verstehen wir die Form des intermittierenden Bewegens. Hierbei wäre es normalerweise notwendig alle 30min, 60min oder 120minfür 1-7min intensiv die Muskeln zu aktivieren. Wichtig ist es dabei die Muskeln ausreichend zu belasten um die oben genannten Myokine freizusetzen. Dies funktioniert am besten mit dem bekannten HIIT-Training (Hoch-Intensives-Intervall-Training mit dem eigenen Körpergewicht oder auch für Fortgeschrittene mit Zusatzlasten.) Dabei hat das morgendliche bewegen von 7min (4min Oberkörper, 3min untere Extremitäten) im nüchternen Zustand sowie ca. 30-120min vor jeder Mahlzeit den größten Effekt. insbesondere nüchterne Bewegung, tragt dazu bei, indem sie die mitochondriale Kapazität steigert. Die vielgenutzten Skelettmuskeln enthalten im Vergleich zu allen anderen Zellen die meisten Mitochondrien und sind leicht trainierbar. Verschiedene Arten von Muskelfasern haben unterschiedliche Funktionen, können ihre Funktionsfähigkeit jedoch gegenseitig stimulieren. Durch abwechselnd aerobes und anaerobes Training fordert Bewegung die metabolische Flexibilität.
Metabolische Flexibilität, die Fähigkeit, leicht zwischen verschiedenen Methoden der Energie (ATP) -Erzeugung zu wechseln, wird sowohl durch Nahrung als auch durch Bewegung beeinflusst. Metabolische Flexibilität bringt Flexibilität in alle großen Körpersysteme, da sie die Verfügbarkeit von Energie erhöht.
Natürlich könnt ihr eure Muskeln zusätzlich 2-3x/Woche für ca. 30-90min im Fitnessstudio etc. trainieren. Am besten wäre natürlich ein Kraft- oder Ausdauertraining an frischer Luft. Damit erzielt ihr natürlich auch eine verbesserte Leistungsfähigkeit und stärkt noch zusätzlich das Immunsystem. Das wahrscheinlich größte Problem bleibt jedoch die restliche Inaktivität (Sitzzeit) des Tages.
Nicht nur Bewegungsmuffel und Stoffwechselerkrankte sind dadurch gefährdet. Vor allem das Thema Insulinresistenz spielt auch bei jungen Leistungssportlern immer wieder eine Rolle. Mindestens 30% der jungen Profi-Fußballer in der Bundesliga leiden aufgrund von zu viel „rumhängen“ vor oder nach dem eigentlichen intensiven Training unter Insulinresistenz. Aber auch die restlichen Stoffwechselfunktionen sind von einer regelmäßigen Bewegung am Tag abhängig. Für einen gesundheitlich positiven Effekt reicht es somit nicht aus, nach einer täglichen Sitz-Zeit von Bsp. 6-12h im Büro oder zu Hause für 1x 30-90min zu bewegen, um die negativen Auswirkungen der Inaktivität zu kompensieren!!!
„Am Ende heißt es: Erst Jagen, dann Essen.“
Also, benutz deinen Körper so, wie es vorgesehen war. Unser Hypothalamus („Chef“ für Energieverteilung im Gehirn) kennt keinen Kühlschrank! Unser Körper kennt es nicht zu essen, ohne dafür etwas zu tun. Und das ist ein entscheidender Faktor!!!
„Was macht der aktive Muskel noch so?“
- Muskelaktivität hebt die fasteninduzierte und übergewichtinduzierte Insulinresistenz auf. Durch eine antientzündlichen Effekt und eine erhöhte Insulinsensitivität.
- Muskelaktivität vor oder nach dem Essen reduziert die postprandiale Entzündung, die Hyperglykämie, postprandiale Lipidämie und die endotheliale Dysfunktion!
- Muskelaktivität erhöht die mitochondriale Biogenese und erhöht das so wichtige Signalmolekül Stickstoffmonoxid! Dadurch wird sie bei der Bekämpfung von Krebszellen eingesetzt.
- Bei einer muskulären Aktivität von ca. 70% der VO2 max. oder einem Laktatwert von maximal 1,5-3,0 mmol/l wird die größte Menge an antioxidativen Enzymen ausgeschüttet.
- Muskelaktivität erhöht bzw. reguliert nicht nur mTOR (Zellteilung), sondern auch AMPK, PGC1alpha, BNDF (Neurogenese und Neuroplastizität), Irisin, Interleukin 6, reduziert die Insulinspiegel und erhöht den Wachstumshormonspiegel.
- Muskelaktivität reduziert die negativen Effekte von Fettansammlungen in der Muskulatur und baut nicht nur die Kohlenhydratspeicher ab, sondern auch Organfett.
- Regelmäßige Bewegung reguliert die Myogenese durch IL-4 und IL-13 (Prozess der Entwicklung, Ausprägung und Plastizität der Skelettmuskulatur).
- Muskelaktivität bzw. regelmäßige Bewegung ist für den Abbau von Harnsäure unerlässlich.
- Muskelaktivität wirkt antientzündlich über die Produktion von verschiedenen Interleukinen, Lactoferrin und Stimulation der Meynert Neurone und somit des Vagus (Entspannung).
- Muskelaktivität induziert eine Schmerzhemmung durch die Ausschüttung von Endorphinen.
- Längeres aerobes Training führt zur Ausschüttung körpereigener Endocanabinnoide. Dem sogenannten „runners high“.
- U.v.m. ….
Fazit für die Praxis:
- Starte die erste Woche mit einem morgendlichen Workout für 4-7 min „Nüchtern intensiv Bewegen“ (Bsp. ein Tabata-Intervall-Training von 8-14x 20Sek./10Sek. Pause mit 2-4 verschiedenen Übungen: Hampelmann, Liegestütze, Ausfallschritt, Unterarmstütz). Optimal wären 4min Beintraining und 3min Oberkörper.
- Ab der zweiten Woche, versuche zusätzlich vor einer Mahlzeit ein 1-4-minütiges Workout mit 1-2 Übungen einzubauen. (Bsp. 1min Kniebeuge, Beugestütz).
- In der dritten Woche kannst du versuchen vor jeder Mahlzeit, also insgesamt 3-5x/Tag, ein kurzes aber intensives Workout einzubauen. + evtl. 2-5x/Woche für 30-60min zum regulären Training (Outdoor, Indoor).
- Mache diese Art von Bewegung zu deiner täglichen Routine. Versuche nicht länger als 30min zu Sitzen und bringe dich immer wieder für 1-4min in Bewegung. Gebe deinem Nervensystem ca. 4-6 Wochen Zeit sich daran zu gewöhnen. Danach wirst du den positiven Effekt spüren und es kostet dich bald nur noch wenig Überwindung.
✓ Zusätzlicher Hinweis:
Versuche diese Art von Bewegung mit artgerechter Ernährung sowie variablem intermittierendem Fasten (14-18h Fasten) zu kombinieren. Du wirst überrascht sein, wie sich dein Wohlbefinden und deine Leistungsfähigkeit steigern.
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